Erforschen, warum die Arktis grüner wird

Ein Forschungsteam der ETH Zürich und der WSL ist diesen Sommer nach Spitzbergen gereist, um das «Arctic Greening» unter die Lupe zu nehmen. Projektleiter Sebastian Dötterl über Forschen zwischen Eisbären, Streiks und Krieg.
Diese Polsterpflanze, ein Stängelloses Leimkraut, ist eine genügsame, an Kälte angepasste Art. (Bild: Simone Fior)

«Wir haben Landschaften gesehen, in denen Permafrost grossflächig kollabiert ist», sagt Sebastian Dötterl besorgt. Der Professor für Bodenressourcen ist soeben von einer Feldkampagne von Spitzbergen zurückgekehrt. Die Inselgruppe liegt auf rund 78 Grad nördlicher Breite, das Thermometer klettert hier im Sommer im Durchschnitt auf neun Grad Celsius.

Dorthin war er Mitte Juli mit elf weiteren Forscherinnen und Forschern der ETH Zürich und der Eidgenössischen Forschungsanstalt Wald, Schnee und Landschaft WSL zusammen mit norwegischen Partnern nach langwierigen, aufwändigen und nervenaufreibenden Vorbereitungen aufgebrochen. Ihr Ziel: die Hintergründe und Mechanismen des «Arctic Greening» zu erforschen. Und Spitzbergen dient hierfür als ideales Feldlabor.

Grösstes und schwierigstes Unterfangen

Noch vor wenigen Tagen kniete Dötterl mit Wollmütze, wind- und regendichter Kleidung in der Tundra, um Bodenproben zu sammeln. Jetzt sitzt er in Shorts und T-Shirt in seinem Büro. Der Forscher wirkt etwas abgekämpft, aber nicht nur wegen dem Wechsel aus der kühlen Arktis in die Augusthitze von Zürich. Sondern auch wegen der Feldforschung auf Spitzbergen selbst – oder vielmehr: wegen der Rahmenbedingungen.

«Dieses Unterfangen stellt bezüglich Grössenordnung und Schwierigkeit meine bisherigen Feldarbeits-Kampagnen in den Schatten», betont Dötterl. «Ich hatte noch nie mit solch schwierigen Rahmenbedingungen zu kämpfen wie bei diesem Projekt, und dass, obwohl wir auch viel Feldforschung in Regionen wie dem Kongo betreiben.»

«Dieses Unterfangen stellt bezüglich Grössenordnung und Schwierigkeit meine bisherigen Feldarbeits-Kampagnen in den Schatten. »      Sebastian Dötterl

Corona, Krieg und Pilotenstreik

Erst verzögerte die Coronapandemie den Projektstart um mehr als ein Jahr. Dann begann Russland im Februar den Krieg gegen die Ukraine, was bedeutete, dass das Forschungsteam Infrastruktur, die der russische Staat auf Spitzbergen betreibt, nicht wie geplant nutzen durfte. Für den Zugang in abgelegene Regionen wären die Forschenden jedoch darauf angewiesen gewesen. Mit Glück konnten die norwegischen Partner in letzter Minute ein Segelschiff samt Crew chartern, damit die Forschenden ein Dach über dem Kopf hatten und zu ihren Untersuchungsgebieten gelangen konnten.

Aber damit nicht genug: Kurz vor der Abreise im Juli gefährdete ein Pilotenstreik bei der skandinavischen Fluggesellschaft SAS das Unterfangen erneut. «Hätte unsere Doktorandinnen nicht so schnell reagiert und erneut für alle Mitglieder der Expedition Flüge gebucht, wären wir gar nicht nach Spitzbergen geflogen», betont Dötterl.

Ökologischen Wandel in der Arktis erforschen

Die Hauptstadt Spitzbergens Longyearbyen ist für das Forschungsteam aus Pflanzenökolog:innen, Bodenkundler:innen, Geoökolog:innen und Mikrobiolog:innen Ausgangspunkt, um im Rahmen eines «ETH+»-Projekts in den kommenden Jahren die lokalen Muster und Mechanismen des Ergrünens der Arktiks zu erforschen. Am Projekt beteiligt sind nebst Dötterls Gruppe auch Forschende um Jake Alexander, Cara Magnabosco und Simone Fior (alle ETH Zürich) sowie Aline Frossard von der WSL.

Den Anstoss zu diesem Forschungsvorhaben gegeben hat die Tatsache, dass die globale Erwärmung Ökosysteme rasant verändert. In der Arktis vollzieht sich dieser Wandel noch schneller als anderswo auf der Welt. So sind die Temperaturen im hohen Norden in den letzten drei Jahrzehnten um vieles stärker gestiegen als im weltweiten Durchschnitt.

Svalbard Expedition 2019: Plants and soils in a warmer arctic. ©Simone Fior / D-​USYS ETH Zürich

Das bringt nicht nur die Gletscher und den Permafrost zum Schmelzen, sondern ändert auch Böden und Pflanzen in der arktischen Tundra. Zwischen 1984 und 2012 sind 30 Prozent der Tundren Nordamerikas grüner geworden, wie eine Nasa-Studie zeigte. Weshalb aber manche Tundren stärker und rascher ergrünen als andere, hängt vermutlich mit der lokalen Bodenfruchtbarkeit, dem Wasserhaushalt und dem Mikroklima zusammen.

Im Fokus der ETH- und WSL-Forschenden stehen einerseits angestammte und eingeführte Pflanzen und wie diese auf die Erwärmung reagieren. Die Wissenschaftler:innen befassen sich auch mit der sich beschleunigenden Bodenentwicklung und den Veränderungen biogeochemischer Kreisläufe. Dazu untersuchen sie ursprüngliche Tundraböden, gestörte Böden in Siedlungsnähe sowie nährstoffreiche Böden in der Nähe von Vogelkolonien an.

Weiter möchten die Forschenden herausfinden, welche Rolle Mikroben bei der Besiedlung von jungen Böden durch Pflanzen und in den sich ändernden mikrobiellen Gemeinschaften in besser entwickelten Böden spielen werden.

Aus ihren Daten wollen die Forschenden schliesslich ein Modell ableiten, welches Änderungen in der Vegetation, den Böden und den Mikroorganismen beinhaltet und zur Prognose zukünftiger Änderungen in arktischen Ökosystemen verwendet werden kann.

Improvisation war gefragt

Mit dem Verlauf der Expedition sind Dötterl und seine Co-Projektleiter:innen trotz aller Schwierigkeiten mit der Expedition sehr zufrieden. «Vor Ort ist fast alles wie erhofft gelaufen», freut sich der Projektleiter. Alle Teilnehmer:innen seien stark motiviert gewesen, alle hätten aufeinander aufgepasst und eine sehr gute und kollegiale Zusammenarbeit gepflegt. «Das ist bei einem Projekt von diesem Schwierigkeitsgrad und unter den teilweise beengenden Bedingungen auf dem Schiff nicht selbstverständlich», betont Dötterl.

Bis auf eine Stelle – die Behörden sperrten eine Siedlung wegen eines streunenden Eisbärs - konnten sie in allen Untersuchungsflächen wie gewünscht Proben holen, insgesamt 1,2 Tonnen Bodenmaterial, das die Forschenden teils gefroren nach Zürich verschifft haben, wo das Material im kommenden Winter im Labor analysiert wird. Dazu kommen hunderte von Pflanzenproben und Samenmaterial für Experimente in Zürich sowie hunderte von mikrobiologischen Proben.

Forschen auf Spitsbergen

Um das darin enthaltene genetische Material zu konservieren, mussten diese Proben im Gelände sofort eingefroren werden und bei -80 Grad Celsius in flüssigem Stickstoff transportiert werden. Weil dafür in der Wildnis keine ausreichende Stromversorgung vorhanden war, schickten die Forschenden vorgängig einen Tank mit 400 Litern flüssigen Stickstoff unter vier Bar Druck nach Spitzbergen. Da der Tank jedoch ein Loch bekam und drei Wochen in Tromsö zwischenlagerte, ehe er auf die Insel verschifft wurde, enthielt er nur noch knapp 100 Liter. Der Druck war auf ein Bar abgesunken. «Das ging gerade noch so auf», sagt Dötterl.

Auch mit anderen technischen Hilfsmitteln war gelegentlich Improvisationskunst gefragt. Eine der drei mitgebrachten Drohnen stürzte bei ihrem ersten Einsatz wegen eines Softwarefehlers ab. Die daran installierten Kameras waren jedoch noch intakt. Um dennoch von oben Aufnahmen der Untersuchungsflächen zu machen, montierten die Forschenden die Sensoren an der Spitze einer vier Meter langen Metallstange, welche sie wie eine Fahne vor sich her tragen mussten und so doch noch Vegetationsaufnahmen aus der Luft durchführen konnten.

Laborarbeit und Trip nach Nordnorwegen

Auf die intensive erste Feldsaison folgen nun viel Laborarbeit und ein weiterer Feldarbeitseinsatz im nächsten Sommer in Nordnorwegen. Dort wird das Team Böden, Mikroorganismen und die Pflanzenökologie in den südlichen Ausläufern der niederen arktischen Tundra untersuchen. Dieser Lebensraum ist die wärmere Entsprechung der hohen Tundra Spitzbergens.

Danach sollen die umfangreichen Daten analysiert werden. Sie bilden die Grundlage für die Untersuchung zukünftiger biogeochemischer Kreisläufe in der sich verändernden Arktis und deren Umsetzung in Landoberflächenmodelle. Insgesamt soll das Projekt bis 2025 laufen.

Dass dieses Projekt trotz all der Widrigkeiten trotzdem so gut gelaufen sei, verdankt Dötterl den drei beteiligten Doktorandinnen Sigrid Trier Kjaer, Lena Bakker und Jana Rüthers. «Sie haben die ganze Logistik und Organisation auf die Beine gestellt und das Projekt damit gerettet. Das war eine riesige Leistung», freut sich der Bodenexperte.