Die gebaute Schweiz neu denken

Gebäude, Strassen, Trassen, Ver- und Entsorgungsnetze und vieles mehr: Das gesamte Bauwerk Schweiz ist so komplex wie seine Herausforderungen für die Zukunft – durch Klimawandel, Naturgefahren, Bevölkerungswachstum und andere Faktoren. Wo beginnen? Mit welchen Schwerpunkten? Eine Expertengruppe lanciert eine Initiative für eine Gesamtschau – und damit neuen Schub für Forschung und Praxis.
Vogelperspektive auf die Zürcher Hardbrücke: Mit Strassen, Trassen, Gebäuden und vielem mehr ist das Bauwerk Schweiz eine komplexe Aufgabe. Bild: istockphoto

Kohlendioxid-Emissionen durch Heizungen verringern, verdichtet bauen, Solarenergie stärker nutzen und effizient speichern, Mobilität und Transporte neu denken: Diese Schlagworte kommen mittlerweile vielen Zeitgenossen in den Sinn, wenn man nach dringenden Aufgaben fragt. Doch was ist das Wichtigste? Wie lassen sich die begrenzten Mittel am effizientesten einsetzen, um etwa bei den Treibhausgasen bis 2050 die angestrebte «Netto-Null» zu erreichen? Wenn zugleich das Schweizer Schienennetz ausgelastet ist, das Strassennetz hoch belastet und das Verkehrsaufkommen immer weiter steigt?

Fragen, die auch Fachleute ins Grübeln bringen. Angesichts der vielfältigen Herausforderungen wollen fünf erfahrene Experten dem Projekt «Entwicklung Bauwerk Schweiz», das vor rund zehn Jahren begann (siehe Infobox), nun neuen Schub verleihen. Unter der Leitung von Peter Matt möchten Fritz Hunkeler, Hans Rudolf Ganz, Laurent Vulliet, Professor an der ETH Lausanne, und der stellvertretende Empa-Direktor Peter Richner dazu neue Denkanstösse liefern – mit einer «Vogelperspektive» auf sämtliche anstehenden Aufgaben. Denn erst eine solche Synopsis erlaube es, Massnahmen über viele Themen hinweg zu priorisieren und, kurz gesagt, das Richtige zur rechten Zeit zu tun.

Fünf Schwerpunkte im Visier

Details aus den Analysen der Fachleute finden sich in einer neuen «Roadmap» mit dem Titel «Das Bauwerk Schweiz steht unter Anpassungsdruck!». Demnach sind fünf Segmente von den anstehenden Herausforderungen besonders betroffen: der Gebäudebestand, die Infrastruktur für den Güterverkehr, die Infrastruktur für den Personenverkehr, sowohl individuell als auch öffentlich, die Trinkwassernetze sowie die Abwassernetze.

Wo die Verfasser grosses Potenzial sehen, stellt die Roadmap auch grafisch dar. In einer Matrix werden der Handlungsbedarf und das Wirkungspotenzial für Massnahmen beim Personenverkehr und bei den Gebäuden als besonders hoch einstuft. Zudem verschaffen «Mindmaps» einen Überblick: Grafiken, die für einzelne Segmente des Bauwerks Schweiz die «Treiber» – also Herausforderungen – möglichen «Hebeln» gegenüberstellen. Für den Güterverkehr zum Beispiel finden sich dort Stichworte wie Drohnen, «Cargo sous terrain» und Kostenwahrheit als Basis für ein «Mobility Pricing».

Wissen erweitern und nutzbar machen

Konkret schlagt das Expertenteam drei Initiativen vor: verstärkte Forschung, um das vorhandene Wissen zu erweitern; zweitens Weiterbildung, damit es rasch bei den Fachleuten in der Praxis ankommt. Und drittens soll ein Impulsprogramm nützliche Informationen in Form von Dokumentationen und anderen Tools allen Interessierten verfügbar machen. «Mit der Roadmap verfolgen wir mehrere Ziele», so Peter Richner, «die Bedeutung des Bauwerks Schweiz für unsere Gesellschaft aufzuzeigen, den Handlungsbedarf zu konkretisieren und vor allem auch das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass wir nur aus einer übergeordneten Gesamtsicht heraus eine zielführende Strategie entwickeln können.»

Detaillierte Informationen zu den Ideen der fünf Fachleute stehen auf einer neuen Webseite zur Verfügung. Neben der Roadmap umfassen die Dokumente auch «Hauptthemen – Versuch zu einem Überblick», verfasst von Fritz Hunkeler: eine umfangreiche Materialsammlung, die auch als Anregung zu Diskussionen dienen soll. Den fachlichen Hintergrund beleuchten verschiedene Präsentationen der Fachtagung «Entwicklung Bauwerk Schweiz» in Bern im Juni 2013, auf denen das Projekt zum Teil basiert.

Entwicklung Bauwerk Schweiz

Das Projekt «Entwicklung Bauwerk Schweiz» startete 2010. Eine Ad-hoc-Arbeitsgruppe formulierte damals auf freiwilliger Basis eine Projektidee, die im Schweizer Bauwesen grossen Anklang fand. Im Juni 2013 fand in Bern die impulsgebende Tagung «Zukunft Bauwerk Schweiz – Herausforderungen, Strategien und Massnahmen» statt, die auch vom Bund unterstützt wurde.

Das Ziel: eine Gesamtstrategie für die mittel- bis langfristige Entwicklung der gebauten Umwelt – angesichts der Herausforderungen bis 2050 und darüber hinaus. Die Initiative mündete 2014 in einer ersten Roadmap und wurde vom Schweizerischen Ingenieur- und Architektenverein (sia) unter dem Titel «Die Schweiz 2050» weitergeführt – allerdings mit Schwerpunkt auf Raumplanung und Landschaftsschutz. Seit der Publikation der ersten Roadmap haben sich die Herausforderungen an das Bauwerk Schweiz deutlich verschärft und beschleunigt.