Umwandlung städtischer Brachflächen in nachhaltige Stadtviertel

Städtische Brachflächen stellen eine nur schwer zu bewältigende Herausforderung für den nachhaltigen Wandel dar. Ein neues Nachschlagewerk, das auf mehr als zehn Jahren Forschung an der EPFL basiert, soll die Prozesse bei der Umwandlung von städtischen Brachflächen in nachhaltige Stadtviertel aufzeigen.
Die Autoren in Luterbach-Attisholz (SO), einem Schweizer Standort, den sie in ihrem Buch vorstellen. © A. Herzog/EPFL

Städtische Industriebrachen sind Brachflächen unterschiedlichster Herkunft, darunter Militärkasernen und Exerzierplätze, Häfen, stillgelegte Kernkraftwerke und Raffinerien sowie Bahn-, Industrie- und Gewerbebrachen. Sie stellen besondere Herausforderungen dar, wenn es darum geht, sie in nachhaltige Stadtviertel zu verwandeln. Ausgehend von einem mittleren Szenario der Bevölkerungsdichte könnten die städtischen Brachflächen der Schweiz theoretisch rund 600 000 neue Einwohnerinnen und Einwohner beherbergen.

Die Sanierung dieser Gebiete nach den Nachhaltigkeitsstandards des 21. Jahrhunderts kann jedoch echte Probleme mit sich bringen – viele Fragen müssen geklärt werden, wie z. B. die Verschmutzung des Bodens, undurchlässige Oberflächen, unzureichende Zugänglichkeit, kostspielige Abrisse, unattraktive Nachbarschaften, verfallene Infrastrukturen, zahlreiche Interessengruppen und unterschiedliche Meinungen.

Werkspoor Fabriek, Utrecht (NL). Umwandlung eines Industrielagers in ein Mehrzweck-Bürogebäude im Werkspoor-Viertel von Utrecht. Zecc Architecten, 20162019 © Zecc Architecten und Stijn Poelstra, 2019

Das Laboratory of Architecture and Sustainable Technologies (LAST) der EPFL hat sich zum Ziel gesetzt, diese schwierigen Bereiche in Chancen zu verwandeln. Das Labor hat ein Nachschlagewerk veröffentlicht, das sich an Architektinnen, Stadtplaner, Ingenieurinnen und politische Entscheidungsträger richtet, die an derartigen Projekten beteiligt sind. «Neighborhoods in transition. Brownfield Regeneration in European Metropolitan Areas» ist Teil der Urban Book Series und basiert auf den Forschungen und Doktorarbeiten von Sophie Lufkin und Martine Laprise, Wissenschaftlerinnen am LAST, sowie von Emmanuel Rey, Leiter des LAST und Spezialist für den Übergang zur nachhaltigen Architektur.

Parco Dora, Turin (IT). Umwandlung eines alten Metallverarbeitungsgeländes in einen Stadtpark. Latz + Partner, 2012 © Uccio "Uccio2" D'Agostino, 2015

Vermeidung von Monotonie und Banalität

«Wir wissen seit den 2000er Jahren um das Potenzial städtischer Brachflächen, aber die Einbeziehung der Nachhaltigkeit in den Erneuerungsprozess bleibt eine grosse Herausforderung», sagt Lufkin. Rey fügt hinzu, dass «Industriebrachen eine Rolle bei der Bekämpfung des Wohnungsmangels in städtischen Gebieten spielen». Für ihn ist die Umwandlung dieser Gebiete in neue Nachbarschaften eine Herausforderung für die Zukunft der bebauten Umwelt. «Die Umwandlung bestehender Gebäude und die Entwicklung neuer öffentlicher Räume ist eine Möglichkeit, die Seele dieser Randgebiete zu bewahren», sagt er. «Es geht darum, ihre Individualität hervorzuheben und sicherzustellen, dass sie nicht zu monotonen, banalen Vorstädten werden.»

Bahnhof F, Paris (FR). Umwandlung der Halle Freyssinet, einer stillgelegten Struktur am Bahnhof Gare d'Austerlitz, in einen Campus für Start-ups. Wilmotte & Associés SAS, 2017 © Patrick Tourneboeuf, 2017

Das Buch LAST gliedert sich in zwei Teile. Nach einer theoretischen Einführung erläutern die Forschenden, welche Instrumente nötig sind, um Projekte gut zu managen und einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten. «Aus schweizerischer und europäischer Sicht haben wir festgestellt, dass die Absichten zu Beginn einer Brachflächenumwandlung oft gut waren, der Enthusiasmus für die Nachhaltigkeit aber mit der Zeit etwas verloren ging», sagt Rey. Um dies zu vermeiden, haben die Forschenden ein System von Indikatoren entwickelt. «Unser System zielt darauf ab, sowohl das Engagement als auch die operative Überwachung der Nachhaltigkeitsziele für diese Projekte zu stärken. Wir haben auch Referenzwerte auf der Grundlage von Fallstudien in der Schweiz, Frankreich und Belgien erstellt. Anhand dieser Werte lässt sich beurteilen, ob ein Projekt ehrgeiziger ist als die derzeitige Praxis», fügt Laprise hinzu.

Nyugati Grund, Budapest (HU). Renovierung eines ungenutzten Bahnhofs. Work in progress © István Keresztes, for KÉK-Hungarian Contemporary Architecture Centre, 2014

Über fünfzig Indikatoren

Die Indikatoren decken ökologische, wirtschaftliche und soziokulturelle Aspekte ab und sind in drei Kategorien unterteilt: Kontext, Projekt und Governance. Die Umgestaltung von Stadtvierteln ist ein gewaltiges Unterfangen, nicht zuletzt wegen all ihrer Anforderungen: Kohlenstoffneutralität, Förderung umweltfreundlicher Verkehrsmittel, Gewährleistung eines qualitativ hochwertigen öffentlichen Verkehrsnetzes, Begrenzung des Verkehrslärms bei Tag und Nacht, Förderung der biologischen Vielfalt und der ökologischen Bewirtschaftung des Regenwassers, leichter Zugang zu öffentlichen und landschaftlich gestalteten Räumen, Aufnahme einer Vielzahl von Menschen mit unterschiedlichen Einkommen, Bereitstellung einer Vielzahl von Funktionen wie Wohnungen, Büros, Dienstleistungen, Freizeitaktivitäten und Geschäften, Möglichkeit der Beteiligung der Gemeinschaft am Umgestaltungsprojekt und Sicherstellung von Einrichtungen wie Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen in der Nähe.

«Unsere Idee war es nicht, ein neues Gütesiegel für nachhaltige Stadtviertel zu schaffen. Unser Indikatorensystem soll nicht dazu dienen, solche Projekte nach aussen hin zu bewerben, sondern vielmehr darin, den Menschen, die an ihnen arbeiten, ein Instrument an die Hand zu geben, mit dem sie ihre Projekte in eine nachhaltige Richtung lenken können.»      Emmanuel Rey

Insgesamt wählten die Forschenden rund 50 Indikatoren aus, die regelmässig überwacht und ausgewertet werden sollten: «Unsere Idee war nicht, ein neues Gütesiegel für nachhaltige Stadtviertel zu schaffen. Unser Indikatorensystem soll nicht dazu dienen, solche Projekte nach aussen hin zu bewerben, sondern den Beteiligten ein Instrument an die Hand geben, mit dem sie ihre Projekte in eine nachhaltige Richtung lenken können», sagt Rey.

Im Interesse einer offenen Wissenschaft war es der Autorenschaft ein Anliegen, dass alle Texte und Bilder frei zugänglich sind.

Ecoparc, Neuchâtel (CH). Renovierung eines stillgelegten Bahnhofs mit einem öffentlichen Bereich als Teil eines nachhaltigen Viertels. Bauart Architectes et Urbanistes, 20002011 © Yves André, 2013

Papierinsel, Kopenhagen (DK). Umwandlung eines alten Papierlagers an der Küste in ein modernes Viertel mit Bereichen für Street Food, Kunstausstellungen, Modeschauen, Konzerte und Flohmärkte. Architekturbüro Cobe. Unfertige Arbeit © News Øresund, Jenny Andersson, 2016

Hellinikon Olympic Hockey Centre, Athen (GR). Verlassenes Stadion, das für die Olympischen Spiele 2004 in Athen gebaut wurde © Arne Müseler, 2019

Kernkraftwerk Mühleberg, Kanton Bern (CH). Rückbau des Kraftwerks im Rahmen der Strategie der Schweiz zum Ausstieg aus der Kernenergie. Die Arbeiten begannen im Jahr 2020 und werden etwa 2034 abgeschlossen sein © Emmanuel Rey, 2021

Battersea Power Station, London (UK). Umwandlung eines alten Kraftwerks in ein 7,6 Hektar großes, gemischt genutztes Projekt. Masterplan von Rafael Viñoly Architects. Laufende Arbeiten © Aurelien Guichard, 2010

Val-Benoît, Lüttich (BE). Umwandlung des 2005 aufgegebenen Campus der Universität Lüttich in ein gemischt genutztes Projekt, das Büros für Start-ups und verschiedene Arten von Wohnungen umfasst. Baumans-Deffet Architecture et Urbanisme. Die Arbeiten begannen 2011 und sind noch im Gange. © Jean Housen, 2017

EuraTechnologies Campus, Lille (FR). Umwandlung einer alten Spinnerei in einen Inkubator und Beschleuniger für Start-ups. B+A Architectes, 2009 © Stefan83~frwiki, 2018

La Cité du Cinéma, Paris (FR). Umwandlung eines alten Kraftwerks in ein Filmstudio und einen Filmkomplex mit Unterstützung des Filmregisseurs und Produzenten Luc Besson. Reichen et Robert & Associés, Urban Architects, 2012 (Foto: © Reichen et Robert, Urban Architects © Laurent Desmoulins, Fotograf, 2016