Der Untergrund als Hort der Artenvielfalt

Europa weist im Vergleich zu den meisten anderen Kontinenten eine relativ geringe biologische Vielfalt auf, weil viele Arten während der Eiszeiten ausgestorben sind. In unterirdischen Ökosystemen jedoch, die von den klimatischen Turbulenzen abgeschirmt waren, konnten uralte Arten in grosser Vielfalt überleben. Zu diesem Schluss kommt eine Untersuchung an der Flohkrebsgattung Niphargus.
Die artenreiche Flohkrebs-Gattung Niphargus kommt nur unterirdisch vor und hat dort die Eiszeiten überdauert. (Fotos: Denis Copilaş-Ciocianu, Teo Delić)

Vor rund 30 Millionen Jahren begannen sich in Südosteuropa durch die Kollision von europäischer, adriatischer und afrikanischer Platte zahlreiche Gebirge zu bilden. Wo diese aus Kalkgestein bestanden – wie in den Südostalpen, den Karpaten und dem Dinarischen Gebirge – entwickelten sich gleichzeitig unter dem Einfluss von Niederschlägen Höhlen im Gestein. Wenn Lebewesen neu entstandene Lebensräume wie diese Höhlen besiedeln und dort ausreichend ökologische Ressourcen finden, kann es zu einer schnellen Entstehung neuer Arten kommen: Die eingewanderte Stamm-Art fächert sich in zahlreiche neue Arten auf, die sich auf die verschiedenen Nischen innerhalb des neuen Lebensraumes spezialisieren. Dieser grundlegende Mechanismus der Evolution wird «adaptive Radiation» genannt und ist für einen grossen Teil der Artenvielfalt auf der Erde verantwortlich. In Europa allerdings ist während des Pleistozäns mit seinem ständigen Wechsel von Kalt- und Warmzeiten ein grosser Teil der so entstandenen Artenvielfalt wieder ausgestorben oder in andere Regionen abgewandert. Daher besetzt Europa punkto Artenvielfalt in den meisten Artengruppen die hintersten Ränge unter den Kontinenten. Weniger Arten gibt es nur in der Antarktis.

Vom Klimachaos abgeschottete Lebensräume

Nun liefert eine kürzlich in der Zeitschrift «nature communications» veröffentlichte Studie von Ole Seehausen, Leiter der Abteilung Fischökologie und Evolution an der Eawag, und einem Team von Wissenschaftlern der Universität Ljubljana und des Landwirtschaftlichen Instituts von Slowenien den Beweis, dass in vom Klimachaos abgeschotteten Lebensräumen im Untergrund ein grosser Teil der alten Artenvielfalt überleben konnte. Bisher gab es darauf nur vereinzelte Hinweise. Seehausen und seine Forscherkolleginnen und –kollegen konnten diese Vermutung nun für die Flohkrebsgattung Niphargus erhärten. Flohkrebse sind wenige Millimeter bis Zentimeter grosse Krebstiere, die in Gewässern leben.  Die Gattung Niphargus kommt nur unterirdisch vor, in Höhlengewässern oder im Grundwasser. «Niphargus ist die artenreichste unter den Flohkrebs-Gattungen und umfasst Hunderte von Arten, deren Entstehung wir mit verschiedenen evolutionsgenetischen Modellierungen untersucht haben», erklärt Seehausen. «Die Ergebnisse zeigen, dass sich diese Artenvielfalt vor 15 Millionen Jahren entwickelt hat, genau dann und genau dort, wo sich mit den Höhlen in den Kalk-Gebirgen neue unterirdische Lebensräume bildeten.» Diese Übereinstimmung legt den Schluss nahe, dass die Besiedlung der neuen unterirdischen Lebensräume der Auslöser für die Auffächerung dieser Flohkrebsgattung in enorm viele neue Arten ist.

Verschmutzung des Grundwassers als grösste Gefahr

Damit scheint ausgerechnet ein so unwirtlicher Lebensraum wie der Untergrund, in dem es wenig Nährstoffe und kein Licht gibt, ein Hort der Artenvielfalt in Europa zu sein. Wenn sich ihre Hypothese verallgemeinern lässt, sollten sich auch bei anderen höhlenbewohnenden Organismen noch unbekannte alte Arten finden lassen, vermuten die Forscher. Ob man diese aber je entdecken wird, hängt auch davon ab, wie lange sie der Beeinträchtigung ihrer Lebensräume durch den Menschen trotzen können. Die grösste Gefahr für die unterirdische Artenvielfalt, die alle Eiszeiten überlebt hat, geht heute von der Verschmutzung des Grundwassers aus.